Dokumentation Alltagsgeschichten Teil 1

Mein erstes Jahr an der neuen Schule hatte ich genutzt, um mit „die Zeitmaschine“ auf mich aufmerksam zu machen und herauszufinden, mit welchen Kollegen man was auf die Beine stellen könnte. Die Theater-  interessierteste Lehrerin, und außerdem Ansprechpartnerin der Grips Werke, war Agnes, die Klassenlehrerin der „berüchtigten“ 5a. Mit Agnes zusammen wollte ich unbedingt ein Projekt machen. Sie hatte ebenfalls Lust dazu. Zwar stellte sich bald heraus, dass sie ihre Schüler an einen neuen Kollegen abgeben würde, um eine erste Klasse zu übernehmen, sie blieb aber Co – Klassenlehrerin und war bereit, das Vorhaben trotzdem durchzuziehen. Daniel, der neue Klassenlehrer war ein netter und ebenfalls sehr engagierter Kerl und unterstützte uns nach Kräften. So auch Moritz, der andere neue Lehrer an unserer Schule.  Die Bezugserzieherin der Klasse allerdings meinte, unser Projekt könnte der Atmosphäre in der Klasse schaden und sie versuchte, dementsprechend auf den Klassenlehrer Daniel einzuwirken. Wir griffen nämlich echte Lebenssituationen der Schüler auf und bauten daraus Szenen. Ihrer Meinung nach würden dadurch alte Rivalitäten und Konflikte in dieser Schulklasse neu aufflammen. Ich nahm das zum Anlass, eine Projektbeschreibung zu entwerfen und die Zielsetzung, sowie den pädagogischen Nutzen unseres Vorhabens positiv zu beschreiben. Dann bat ich auf Anregung der koordinierenden Erzieherin um eine Zusammenkunft aller Beteiligten und stellte meinen Standpunkt so dar, dass die Gegenargumente der Bezugserzieherin völlig entkräftet wurden. Im Nachhinein betrachtet war dieser Gegenwind übrigens sehr hilfreich, da ich dadurch gefordert war, darauf zu achten, dass unsere Alltagsgeschichten am Ende positiv aufzulösen, anstatt die negativen und ungeklärten Ausgänge aus den Original Situationen im Raum stehen zu lassen. Darauf gehe ich genauer in Teil zwei der Dokumentation ein.

 

Seit dem Tag der Besprechung war die Bezugserzieherin Langzeit-  krankgeschrieben und Flora, eine neue Kollegin, wurde der Klasse zugewiesen. Sie war sehr neugierig und offen und vor allem bereit, dieses anspruchsvolle und schwierige Unternehmen mit voran zu treiben. Jetzt waren wir schon zu fünft. Das war ein Riesenglück und bei dieser Schulklasse auch unbedingt vonnöten. Da müssen alle an einem Strang ziehen und gut kommunizieren.

 

Aber nochmal zurück zum Begin. Unser Ziel war es, die Schüler dazu zu bringen, Geschichten zu erzählen aus denen wir Szenen bauen konnten. Wir bildeten erst einmal einen Gesprächskreis, in dem wir sie anregten, sich zu überlegen, was bisher ihr schönstes und was ihr schlimmstes Erlebnis an der Schule war.

 

Stichworte, um bei den Gesprächen in die Tiefe zu gehen:

 

Was bedeutet „fühlen?“

 

Was für Gefühle kennt ihr?

 

 

 

Evtl. darauf basierend Szenen nachstellen.

 

Was wollen die einzelnen Protagonisten?

 

Was mögen sie nicht?

 

Wo treffen verschiedene Bedürfnisse aufeinander? (Konflikte entstehen ja oft, weil verschiedene Bedürfnisse aufeinandertreffen)

 

 

 

Leider ist das Gespräch nicht richtig in Gang gekommen. Mit „schönstem Erlebnis“ und „schlimmsten Erlebnis“ konnten sie nicht viel anfangen. Also stellten wir konkretere Fragen:

 

 

 

Wer wurde schon mal im Internet beschimpft?

 

Hattest du schon mal einen Tadel bekommen?

 

Hattest du dich schon mal geprügelt?

 

Hattest du schon mal mit der Polizei zu tun?

 

Bist du schon mal verprügelt worden?

 

Wer war deiner Meinung nach Schuld?

 

 

 

Bist du schon mal bestohlen worden?

 

Fühltest du dich schon einmal betrogen?

 

 

 

Wer musste schon mal auf die Schulstation?

 

Mit wem?

 

Was war da passiert?

 

Wie wurde das geregelt?

 

 

 

Dazu fiel ihnen schon mehr ein und die ersten Kinder begannen nach und nach, ihre Geschichten aufzuschreiben. Es entwickelte sich alles aber nur sehr zähflüssig und wir mussten uns noch mehr einfallen lassen, um genug Geschichten zusammen zu kriegen. Da ja sehr viel deutsch Unterricht dabei verloren ging, mussten diese Geschichten ja auch für Deutschnoten genutzt werden. Die Leistungen auf der Bühne wollte ich keinesfalls bewerten lassen.

 

 

 

Um Material zusammen zu kriegen schrieb ich auch ein Tagebuch, in dem ich notierte, was wir versuchten, was davon geklappt hatte, was nicht und was man, basierend darauf, als nächstes versuchen könnte. Hier ein paar ungeschminkte Auszüge:

 

„Zum nächsten Mal sollte ich mir von Agnes schon mal was schicken lassen, damit ich mit den Kids auch was proben kann.

 

Manche Erlebnisse können ja auch, wie bei Manuela über einen größeren Zeitraum gehen. Da immer nachfragen ob sie sich noch wiedergesehen haben … sich vertragen haben … auf welche Weise sie sich vertragen oder weitergestritten haben.

 

Klären ob ich bei BK oder einem anderen Fach mal einzelne rausnehmen kann um die Monologe zu üben.

 

Wie kann man mehr Tiefe reinbringen? So, dass die Kids auch mal ihre ernsthaften Seiten zeigen können, mal sagen können und ausdrücken können wie es ihnen wirklich geht.

 

Wenn mir was peinlich ist …

 

Wenn ich traurig bin … wütend, hilflos, beleidigt bin, mich schwach fühle … Gesprächskreis mit den Kids machen.

 

Was wäre, wenn ich schwach wäre, mich nicht gegen Beleidigungen wehren könnte, von anderen tyrannisiert werden würde? (Anmerkung: Ich habe „wäre“ und „würde“ benutzt, weil die meisten Schüler in der Regel zu stolz sind, um zuzugeben, dass ihnen so etwas passieren könnte/ passiert ist)

 

In der Montagmorgenstunde mal solche Themen anschneiden …

 

Was bedeutet Freundschaft? Bist Du schon mal von einem Freund sehr enttäuscht worden? Bist du ein guter Freund? Hast du schon mal einen guten Freund enttäuscht?

 

Was macht Helden aus?

 

Wie entwickle ich Szenen wo die Kinder ernsthafte Coolness zeigen können?

 

Können wir mal einen Projekttag zu so einem Thema machen?

 

 

 

Gespräch mit Peter (Anmerkung: Ein sehr begabter Schauspielkollege, den ich gerne um Rat fragte) zu Themen für ein Theaterstück: Die Welt! Helden!

 

Was fällt Euch dazu ein? Gesprächsrunden.

 

Einfach mal auf die Bühne stellen und machen lassen.

 

Nach 6 Wochen Zwischenergebnisse zeigen.

 

Jeden mit seinen Text 2 – 5 Minuten auf die Bühne schicken.

 

Sie haben Zeit ohne Lehrer zu proben und dann können sie sich gegenseitig Feedback geben.“

 

 

 

Wir teilten die Schüler schon von Anfang an in zwei Gruppen auf. Eine Gruppe arbeitete mit dem Lehrer im Klassenraum an der Entwicklung seiner Geschichte und die andere Gruppe machte mit mir auf der Bühne Theaterübungen. Es dauerte mir aber zu lang, bis die Geschichten zu Ende geschrieben waren. Deswegen fing ich schon bald an, mit den Rohentwürfen, die sie hatten, praktisch zu arbeiten. Die Schüler sollten auf die Bühne gehen und hatten zwei Minuten Zeit, ihre Geschichte so gut wie möglich zu erzählen. Um ihnen die erste Unsicherheit zu nehmen, kam immer noch ein Mitspieler mit auf die Bühne. Der Erzähler konnte wählen, seine Worte an den „Begleiter“, ans Publikum oder an Gott (Das ist jetzt nicht religiös, sondern darstellerisch gemeint) zu adressieren. Nach dem Erzählen musste er eine Minute über die Zuschauer hinweg an die Wand schauen, ohne irgend etwas zu tun. In dieser Übung brachte ich ihnen bei, wie viel Kraft in einem Menschen steckt, wenn er sich gerade nicht hinter irgendeinem Getue versteckt. Ich nannte es „Die wahre Coolness“. Diese Übung war alles andere als leicht, aber sie wirkte. Bei manchen Schülern war deutlich zu sehen, dass sich ihre Ausstrahlung „ohne Gezappel und Gegrinse und Gepose“ deutlich verstärkte. Zudem hatte der „Begleiter“ die Aufgabe, das Erzählte in eigenen Worten wiederzugeben. Dann durften aus dem Publikum noch bis zu drei Fragen an den Erzähler gerichtet werden. Dadurch förderten wir aktives Zuhören. Aktives Zuhören fördert die Empathie und somit ein friedlicheres Miteinander.

 

Ich schrieb mir Stichworte auf und fing an, daraus Szenen zu entwickeln. Dabei wollte ich mehrere verschiedene Erzählstrategien benutzen. 26 Szenen würden wir niemals auf die Bühne bekommen, deswegen entschied ich mich genau für die Hälfte, also 13! Nette Zahl. Um Abwechslung ins Bühnengeschehen zu bekommen, wollte ich auch noch ein paar Choreografien einbauen. Dabei bekam ich Unterstützung durch Anne von den Grips Werken. Ich hatte nämlich noch ein paar Fortbildungsstunden gut, weil meine Bezugs Schulklasse am Grips Projekt teilgenommen hatte. Im Verlaufe des Schuljahres machten wir noch drei intensive Projektwochen, in denen Anne uns besuchte und bei den Choreografien unterstützte.

 

Die Choreografien werden im Theaterskript „Alltagsgeschichten“ beschrieben. Ein wichtiger Effekt dieser Choreografie war, abgesehen von der Darstellung, ein intensives Konzentrations- und Präsenstraining: Schulterbreit und ruhig stehen, Arme seitlich hängen lassen und laut seinen Satz ins Publikum sagen. Ich stellte mich in dieser Haltung vor die Gruppe und immer, wenn jemand etwas Abweichendes machte, spiegelte ich das mit meinem Körper oder wies verbal darauf hin:

 

-          Du schaust zur Seite

 

-          Deine Arme sind hinterm Rücken.

 

-          Deine Beine sind gekreuzt.

 

-          Du wippst mit dem Fuß.

 

-          Du grinst. Nimm dich mal ernst. Hör auf, deine Power weg zu grinsen.

 

Diese Art Disziplin funktionierte auch, ehrlich gesagt, mit Gruppendruck. Denn erst, sobald alle gut standen, fuhren wir in den Proben fort. Wenn jemand ständig korrigiert werden musste, waren die Anderen total genervt, also gaben sie sich Mühe um endlich fortfahren zu können. Spaß hatte niemand an der Übung. Als Motivation brachte ich hier zusätzlich „die Macht“ aus Starwars ins Spiel: „Je ruhiger ihr seid, desto schneller spürt ihr, wie der Feind sich von hinten nähert, wie das Laserschwert auf euch zu saust und dann wisst ihr instinktiv, wie der Schlag zu parieren ist.“ Natürlich bezog ich mich auf die gute Macht“ der Yedi Ritter.

 

Wenn es gut klappte, sagte ich: „Ja, Hammer! Ihr seid eine Hammertruppe. Das sieht total stark aus! Weiter so. Das ist die wahre Coolness!“

 

Am Ende des Jahres hatte diese Truppe eine unglaubliche Ausstrahlung.  Diese Schüler nahmen an den Spandauer Grundschultheatertagen teil und tatsächlich wurden dort ihre Präsenz und ihre starke Ausstrahlung gelobt. Bei den Theatertagen konnten wir nur einen Ausschnitt von Zwanzig Minuten zeigen. Die Originalaufführungen an der Schule dauerten über eine Stunde. Zwar fehlten bei den Aufführungen manchmal einige Schüler, aber das war kein Problem, weil wir auch mal ein oder zwei Szenen weglassen konnten und weil manche Mitschüler die Texte von den anderen mitgelernt hatten und für sie einspringen konnten. Das Stück ist auch phantastisch bei den zuschauenden Kindern angekommen. Die Klasse, die ansonsten einen Ruf hatte „Rabaukentum und Zickenkrieg“ zu beherbergen, hatte etwas Positives abgeliefert und viel Anerkennung bekommen. Am Ende hatten dabei 2 Erzieher, 3 Lehrer und eine Theaterpädagogin von den Grips Werken mitgewirkt.

 

 

 

Falls du ein ähnlich umfangreiches Projekt versuchen solltest, gebe ich dir nochmal einen organisatorischen Tipp. Zeit ist knapp und wenn man mit mehreren Leuten arbeitet, kann man zeitgleich in verschiedenen Räumen verschiedene Szenen proben. Man muss natürlich drauf achten, dass man nicht gleichzeitig zwei Szenen probt, an denen die selben Schauspieler beteiligt sind. Zur besseren Planung hatte ich folgende Tabelle entwickelt: Das Kreuz unter der Szene bedeutet, dass der entsprechende Schüler in ihr mitspielt. Ebenfalls vermerkte ich, wenn ein Mitspieler nur wenig in der Szene zu tun hat, so dass er bei den Proben auch mal entbehrlich ist und an einer anderen Szene mitwirken kann.

 

 

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Zum Theaterstück „Alltagsgeschichten“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Amar

Amira

Anesa

Dennis

Edon

Enza

Furkan

Hazal

Manuela

Melvin

Pati

Rick

Vanessa

Ricks Szene

X

 

 

X

 

 

 

 

 

 

X

X

 

Hazals

Szene

 

X

2 Sätze

X

 

X

X

X

1 Satz

X

 

 

1 Satz

Vanessas

Szene

 

 

X

 

 

Kein Text

 

 

 

 

X

 

X

Edons

Szene

 

 

 

 

X

 

X

 

 

X

 

 

 

Manuelas

Szene

 

X

X

 

 

 

 

X

X

 

 

1 Satz

 

 

 

 

Das waren die Folgerungen aus dieser Skala. (Für die andere Gruppe gab es auch so eine Tabelle)

 

-          Ricks Szene und Hazals Szene können gleichzeitig geübt werden

 

    Dennis kann mal zwischen den Teams wechseln

 

-           Edon  - Manuela, Vanessa , Anessa  können was anderes machen, da sie keine Rolle oder kaum Text haben.

 

-          Vanessa und Hazal auch möglich: Vanessa und Anesa proben ihren Dialog bei Vanessa Szene

 

-          Edons und Vanessas Szene können gleichzeitig geübt werden

 

-          Edon und Ricks Szene können gleichzeitig geübt werden

 

-          Edon und Manuelas Szene können gleichzeitig geübt werden

 

-          Manuelas und Ricks und Edons Szene können gleichzeitig geübt werden: Rick probt bei Ricks Szene

 

In der Dokumentation Teil 2 gehe ich auf die Entwicklung und die Inhalte der jeweiligen Szenen ein, sowie auf ihren pädagogischen Nutzen.

 

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