Dokumentation Alltagsgeschichten Teil 2

Im ersten Teil meiner Dokumentation von Alltagsgeschichten berichtete ich ganz allgemein vom Konzept und Verlauf dieses umfangreichen Theaterprojektes. Im zweiten bis vierten Teil gehe ich auf die einzelnen Geschichten ein, die erzählt wurden. Ich war bestrebt, möglichst verschiedene Erzählformen zu benutzen um sie rüberzubringen. Damit die Szenen nicht zu umfangreich wurden, kürzten wir sie ab, indem die Protagonisten zwischendurch erzählten, was passiert ist. Ansonsten wäre aus manchen Geschichten ein eigenes Theaterstück geworden.

 

 

 

Sally /Elham – Erzählform: Referat

 

Die Geschichten von Sally und Elham fasste ich zu einer Szene zusammen, da beide ein gemeinsames Thema hatten: Die ABF! ABF ist die Abkürzung für allerbeste Freundin. Da bot es sich an, einen martialischen Spruch aus einem alten Kinofilm namens „Highlander“ einzubauen der einen wesentlichen Aspekt der ABF bestens beschreibt: „Es kann nur eine geben!“ Als ich den Begriff ABF das erste Mal hörte, lies ich mir von den Mädchen genau erklären, was das überhaupt bedeutet. Ihre Erklärungen benutzten wir dann als Intro für die Szene: Die Mädchen standen aufgereiht nebeneinander, der Vorhang öffnete sich, die Scheinwerfer gingen an und Maral stellte die Frage: „Was ist eine ABF?“ in den Raum. Dann wechselten sich die Mädchen mit der Beschreibung der ABF ab. Es wirkte wie ein gemeinsam vorgetragenes Referat. Manche Dinge sagten sie auch chorisch. Das wirkte nochmal kraftvoller, es symbolisierte Einigkeit und war auch irgendwie komisch. Dann gingen sie vom Referieren ins Vorspielen über. Sie demonstrierten durch persönliche Erfahrungen, was dazu gehört, wenn man eine ABF sein will.

 

In der ersten Geschichte ging es darum, dass Elham und Anesa als Abf´s auf der Klassenfahrt Streit miteinander hatten, weil Anesa beim gemeinsamen Ausritt das kleinere Pferd bekam und neidisch auf Elham wurde. Sally und Maral mischen sich in den Streit ein und ergriffen Partei für Elham. Anesa spielte übrigens nicht sich selbst, sondern sie wurde von Firuse gespielt. Das ergab sich zufällig, als ich Firuse mal bat, Anesa vorzuspielen, wie sie sie wahrnahm. Interessanterweise hatte Anesa Probleme sich selbst zu spielen, Firuse konnte das wiederrum sehr gut. Vielleicht hat Anesa ja was über sich gelernt, als sie gesehen hat, wie sie von Firuse gespielt wurde. Ich bin mir sogar sicher, dass alle Protagonisten viel über sich gelernt hatten als wir die Szenen zusammenbauten. Ich stellte ihnen sehr detaillierte Fragen über ihre Gefühle, ihre Reaktionen und Ihre Meinungen, so dass sie mal die Gelegenheit hatten, ehrlich ihr Verhalten zu betrachten, ohne sich rechtfertigen zu müssen.

 

 

 

Beispiele für Fragen, die soziale Lernprozesse in Gang setzen können:

 

Elh: (Freudig)            Ja, war toll.

 

Fir: (Ironisch)            Ja, war toll

 

(Rachel geht mit Pferden ab)

 

Fir: (Ironisch)            Ich bin gar nicht sauer.

 

Anesa hatte bei den Interviews erst mal behauptet, dass sie gar nicht sauer war. Als ich nochmal nachhakte lenkte sie doch ein, dass sie vielleicht „ein bisschen“ sauer war. Wir sprachen dann darüber, woran es liegen kann, dass man nicht zugeben mag, wenn man sauer ist.

 

Elham bekam die Gelegenheit zu beschreiben, wie es ihr ging, als sie bei dem Versuch, sich zu versöhnen, eine Abfuhr von Anesa bekam.

 

Anne (An) baute ich noch als die ein, die von der Lehrerin den Auftrag bekam, Anesa zu trösten. Das ist zwar in dieser Situation nicht passiert, aber ansonsten war Anne die Schülerin die durch ein ausgeprägtes Helfersyndrom unterbewusst anbot, immer zur Verfügung zu stehen, wenn jemand Hilfe brauchte. In ihrer Familie war sie die rechte Hand ihrer Mutter und passte immer auf die kleinen Geschwister auf und in der Schule setzte sich dieses Rollenspiel fort. Um neues Verhalten auszuprobieren ließ ich sie diesmal anders als sonst reagieren.

 

Fir:                 Kannst du bitte neben mir bleiben? Dann fühle ich mich nicht so alleine.

 

An:                 Nee, ich hab zu tun. Tschüß!

 

In der zweiten ABF Geschichte geht es darum, dass Anesa bei Manuela und Sally als per Whatsapp anfragt, ob sie als dritte ABF einsteigen kann. Das ist ein Tabubruch, mit dem sie die beiden in eine schwierige Situation bringt. Sie wissen aber, wie schnell Anesa beleidigt ist und wollen sie nicht kränken. Am Ende ist sie aber trotzdem gekränkt. Für die Mädchen steckte eine wichtige Lehre in dieser Geschichte die, etwas mit positiver Abgrenzung zu tun hat: Es ist Ok „nein“ zu sagen, solange man dies respektvoll tut. Für die Gefühle, die das beim anderen auslöst ist man nicht verantwortlich. Anesa wird übrigens wieder von Firuse gespielt und Manuela von Maral.

 

Mara:             Ich hab eine Idee.

 

Sal:                 Was denn?

 

Mara:             Wir sagen ganz normal warum das nicht geht und bitten sie einfach, nicht sauer zu sein.

 

Sal:                 Superidee, dann kann sie gar nicht sauer sein.

 

Mara:             Hoffentlich!

 

Sal:                 Hoffentlich!

 

Sal:     Liebe Ans. Leider können wir dich nicht als allerbeste Freundin nehmen, weil es bei 3 ABF´s immer Streit gibt. Bitte sei nicht böse.

 

Außerdem wird hier nochmal gezeigt, wie Verwirrung entstehen kann, wenn man solche Themen über Whatsapp bespricht:

 

Mar:               Und was schreibt sie?

 

Sal:                 Na denn wünsche ich euch viel Spaß mit eurer ABF!

 

Mar:               Das ist aber nett.

 

Sal:                 Nee, die ist sauer, glaube ich. Da ist kein Smiley dabei.

 

Am Ende hatte ich Elham noch eine Frage in den Mund gelegt, die ich den Mädchen bei den Interviews gestellt hatte:

 

Elh:                Habt ihr euch denn wieder vertragen?

 

Sal:                 Ja! Anesa hatte sich dann beruhigt und ganz vernünftig gesagt, dass sie unsere Entscheidung versteht.

 

 

 

Nick – Erzählform: Therapiesitzung

 

Nick ist von seinem Freund Tony (Name geändert) eine Kamera und ein Nintendo gestohlen worden, als dieser ihn zum spielen besuchte. Den Diebstahl des Nintendos hatte Nick noch rechtzeitig entdeckt und sich den zurückgeben lassen. Die Kamera hatte Tonys Vater bei ihm gefunden und gemeinsam mit ihm zurückgebracht. Danach sind Nick und Tony sich gegenseitig aus dem Weg gegangen.

 

Beim Interview mit Nick bin ich auf die Idee gekommen, die Geschichte so zu erzählen, dass Nick einen Termin bei einem Therapeuten hat und dieser ihn befragt. Die Fragen die der Therapeut ihm stellt sind die selben Fragen, die ich ihm gestellt hatte um das Geschehen zu rekonstruieren, und die Antworten sind original die, die Nick mir gegeben hatte:

 

Beispiel:

 

Al:                  Warum hat er das getan? Was glaubst du?

 

Nic:                 Ich glaube, er hatte solche Sachen nicht!

 

Der Therapeut wurde erstklassig von Alex gespielt, der auch später den Hänsel aus „Hänsel und Gretel“ verkörperte. Er nickte und hörte aktiv zu, wie ein echter Therapeut. Wenn Nick ihm antwortete, dachte Alex einen Augenblick nach und stellte dann mit Bedacht und Einfühlsamkeit die nächste Frage. Zum Schluss drängte er ihn mit sanfter Autorität dazu, Tony seine Empfindungen mitzuteilen und die Sache mit ihm zu klären. Wie ein Überraschungsgast bei einer Talk-Show wird Tony hineingerufen und steht für eine Klärung zur Verfügung. Das ist in Wirklichkeit nicht passiert, soll den Schülern aber den Impuls geben, ihre Sachen miteinander zu klären und dabei schonungslos ehrlich zu sein:

 

Nic:                 Das war eine Riesensauerei. Du hast mein Vertrauen missbraucht.

 

Jer:                 Es tut mir leid.

 

Nic:                 Das kann jeder sagen.

 

Jer:                 Ich mach es wieder gut.

 

Ferner wird hier klargestellt, dass man durch eine halbherzige Entschuldigung keinen Konflikt klärt, sondern etwas tut, um den Schaden wieder gut zu machen. In der Reflektion dieser Geschichte besprach ich mit den Schülern, was Tony tun könnte, um den Schaden zu beheben.

 

Z.B: Etwas Gutes für Nick tun. Ihn ins Freibad einladen etc.

 

Genau wie in der ABF Szene switchten wir zwischen Erzählung (Beim Therapeuten) und gespielter Szene hin und her.

 

Ich möchte nochmal betonen, dass es nicht darum geht, die Geschehnisse wortgetreu wiederzugeben und alles genau so zu zeigen, wie es passierte. Es geht darum, die Essenz der Geschichten zu erfassen und sie so interessant und knapp wie möglich zu erzählen. Folgender Dialog ist ein Beispiel dafür, wie man sich auf das Nötigste beschränkt.

 

Nic:                 Mamaaaa

 

An:                 Was ist los Nic?

 

Nic:                 Kann Tony heute hierbleiben?

 

An:                 Klar doch.

 

Jer:                 Klasse, habt ihr hier eine Wii?

 

An:                 Ja in meinem Zimmer!

 

Jer:                 Können wir damit spielen?

 

An:                 Klar, kommt mit.

 

Der folgende Dialog hatte so auch nicht stattgefunden, gab der Szene durch ihren Humor aber einen gewissen Pepp. Ich gab Marvin, der gar nicht so richtig Lust auf Theater hatte, eine Motivation zum spielen, indem ich ihn dabei richtig cool aussehen ließ.

 

Die einzige Information auf die dieser Dialog beruht lautet: „Nicks Bruder hatte gesehen, dass Tony in dessen Sachen herumwühlte.“

 

Mar (lässig): Hey kleiner Bruder. (Bleibt stehen) Da ist so ein Spinner in deinem Zimmer und wühlt in deinen Sachen rum.

 

(Nic schreckt hoch)

 

Nic:                 Was?

 

Mar:               Ja Mann, darf er sowas?

 

Nic:                 Nein, natürlich nicht.

 

Mar:               Na dann zeig ihm mal wer hier der Boss ist Kleiner.

 

Nic:                 Äh ja, mach ich. (Geht ab)

 

(Marvin holt einen Kamm aus der Tasche und kämmt sich)

 

Mar (lässig): Muss man sich denn immer um alles kümmern? (Geht ab)

 

 

 

Alex – Erzählform: Kurze Einführung – Szene - Fazit

 

Alex und Shawn sind gute Freunde.  Aber einmal fing Shawn auf dem Weg zur Hofpause unvermittelt an, Alex zu verfolgen, zu beleidigen und zu provozieren. Shawn war ein sehr introvertierter Außenseiter in der Schulklasse und Alex gehörte zu den Wenigen, die sich mit ihm abgaben. Alex war eine der wenigen Leuchten in dieser Schulklasse, also ein sogenannter „Streber“. Gemobbt wurde er von der Allgemeinheit aber nicht. Ganz im Gegensatz zu Shawn. Ich hätte nie im Leben gedacht, Shawn vor Publikum auf die Bühne zu kriegen und machte ihm auch klar, dass es erstmal nur ums proben geht und Alex in der Szene seine Unterstützung braucht. Pikanterweise lockte ich ihn ausgerechnet damit aus seinem Schneckenhaus, dass er mal jemand anderes auf der Bühne so richtig cool mobben durfte. Ganz am Anfang ließ ich auch niemand bei ihm zuschauen. Allein mit Alex, der Helfersyndrom - Anne und mir traute er sich allmählich, etwas auf der Bühne zu sagen. Immerhin! Es gab Tage, da bekam er nicht mal in den Pausen oder im Unterricht den Mund auf. Ich musste aber auch spontan lachen, als ich hörte, dass er Alex mit „Waschmaschine“ beleidigte. Er bekam viel Beifall von mir und er war auch tatsächlich witzig mit seiner trockenen, emotionslosen Art. Dann schaute auch Agnes, die Co Klassenlehrerin mal bei ihm zu und musste ebenfalls spontan lachen. Shawn wurde immer mutiger und frecher. Nach und nach schauten auch andere zu, amüsierten sich und staunten über den „neuen Shawn.“

 

Am Ende wollte ich es aber nicht so stehen lassen, dass Shawn nur durch Gemeinheiten glänzt. Deswegen war der letzte Satz von Alex noch eine unterschwellige Botschaft an Shawn:

 

„Ich war echt fertig mit den Nerven. Ich dachte das geht ewig weiter. Aber jetzt sind wir wieder gute Freunde. Shawn hat sich geändert und ist ein richtig toller Kerl geworden. Ich find´s cool, dass er in meiner Klasse ist.“

 

Ermutigt von Shawns Fortschritten, war ich bereit auch aus seiner Geschichte eine Szene für die Bühne zu machen. Mehr dazu im Teil 3 der Dokumentation.

 

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