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Hänsel und Gretel

 

 

 

Es geschah Mitte November in einer Brennpunktschule im westlichen Teil von Berlin. Die Winterfeier stand bevor und die Elternsprecherin hatte die glorreiche Idee, dass die Kinder den Eltern vielleicht was Schönes vorspielen könnten. Das war der Zeitpunkt wo bei mir als zuständigen Bezugserzieher die Alarmglocken schellten. Ich wusste, was als nächstes kam: „Herr Schindler, Sie hatten doch mit unseren Kindern letztes Jahr so ein tolles Theaterprojekt gemacht, wollen Sie mit ihnen nicht wieder mal was Nettes einstudieren? Muss auch nichts Großes sein!“ Volltreffer! Normalerweise sind meine Betriebssysteme in dieser Phase des Schuljahres nur auf den ganz normalen Überlebensmodus eingestellt. Irgendwelche energiefressenden Extras sind da nicht vorgesehen. Aber man will ja auch nicht allzu unengagiert wirken und die Zeit um eine passende Ausrede zu finden war zu knapp. Alle Blicke ruhten auf mir und ich sagte nach kurzem Zögern: „… Klar … gerne!“ Was gibt es auch Schöneres als mit einem Haufen frühreifer und extrem pubertierender Brennpunktkids ein Winterprogramm für die Eltern auf die Beine zu stellen. Denn diese Kids wollen nur eines: Cool sein! Aber gut. Sollen sie doch was rappen. Genau! Jeder der Schüler überlegt sich einen Satz den er zu unserem gemeinsam vorgetragenen Winterrap beitragen will. Wir basteln alle Sätze zusammen, die Schüler stellen sich vor die Eltern, rappen ihre Sätze herunter, alle klatschen freundlich und fertig ist die Laube. Warum unnötig kompliziert machen? Ich wollte hier nichts Kompliziertes mehr machen, weil ich daran schon beim letzten Mal fast nervlich zugrunde gegangen wäre. Es war eine Nahtod Erfahrung. Nie wieder! So stand ich also vor der Klasse und machte meinen Vorschlag vom verteilten Winterrap. Gelangweilte Gesichter blickten mich an. Aus formellen Gründen fragte ich: „Oder hat hier jemand einen besseren Vorschlag?“ Eines der Mädchen sagte: „Hänsel und Gretel!“

 

Ich: Hänsel und Gretel???

 

Schülerin: Ja!

 

Ich (angesäuert): Willst du mich ver … meinst du das ernst? Ich will einen ernst gemeinten Vorschlag hören.

 

Schüler: Finde ich auch gut.

 

Ich: Was findest du auch gut?

 

Schüler: Hänsel und Gretel.

 

Ich: Wie bitte???

 

Weitere Schülerin: Oder Rotkäppchen!

 

Ich nur gedanklich im Kopf: Meine Güte, die meinen das ernst, aber die kommen schon wieder runter.

 

Ich süffisant: Also gut, fragen wir doch mal den Rest der Klasse. Wer hätte Lust Hänsel und Gretel zu spielen?

 

Ich (gedanklich): Hä, hä!

 

18 Schüler Ich!

 

Ich (gedanklich): Sch...!

 

Ich (neuen Mut schöpfend): Da gibt es aber gar nicht genug Rollen für alle. Nur Den Vater, die Mutter, Hänsel, Gretel und die Hexe.

 

Weiterer Schüler: Und ein Schwan.

 

Ich: Schwan?

 

Ich (gedanklich): Weiß ich nichts von, muss ich mal googeln.

 

Schülerin: Und die Kieselsteine!

 

Noch eine Schülerin: Und die Bäume!

 

Schüler: Und die Vögel!

 

Und da geschah etwas Seltsames. So eine Art … äh … Winterwunder. Diese Klasse hatte es das erste Mal geschafft mich zu motivieren und nicht umgekehrt. Wir phantasierten den Rest der Stunde herum und dann setzte ich mich an den Computer und googelte die Originalversion der Gebrüder Grimm von Hänsel und Gretel. Ich sah die Schüler dieser Klasse so wie sie nun mal sind, als Kieselsteine, Bäume, Vögel, Hühnerknochen und pubertierende Hänsel und Gretels wie sie auf der Suche nach Lebkuchenhäusern Brandenburgs Wälder unsicher machen. Und die feierliche und ernsthafte spätmittelalterliche Sprache der Gebrüder Grimm vermischte sich mit dem ungezähmten Geplapper dieser verrückten und liebenswerten Brennpunktkids. So entstand dieses Stück. Zuerst führten wir es ohne Kostüm und mit einem Minimum an Requisiten zwischen Stühlen und Tischen unseres Klassenzimmers auf. Da ist es so gut angekommen, dass wir es noch einmal zum Lesepaten Treff auf unserer Schulbühne aufführten. Schließlich ließen wir uns noch vom Kostümkreisel von „Berlin macht mit e.V“ mit phantasievollen Kostümen ausstaffieren um es dann begleitet von amüsierten Gelächter und großem Applaus bei den Spandauer Grundschultheatertagen zu zeigen.

Ironischerweise machte mich diese Geschichte schließlich offiziel zu einem Theaterautoren. Ich schickte das Stück nämlich spaßeshalber an einige Theaterverlage. Sechs Monate später, als ich schon gar nicht mehr daran dachte, bekundete der Deutsche Theaterverlag in Weinheim sein Interesse und nahm es ins Programm auf. Wenn du willst kannst du dir dort mal eine Leseprobe runterladen und anschauen, ob es zu deiner Theatertruppe passt. Viel Spaß beim Lesen.

 

Hänsel und Gretel

 

 

 

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