Dokumentation von Schlappköpfe und Angeber

Nach 12 Jahren Abstinenz kehrte ich wieder in den Erzieherberuf zurück. Wirklich wohl fühlte ich mich dabei erst einmal nicht. Als ich damals, in den 90ern, meine Ausbildung machte, war diese Berufswahl eine Notlösung, weil ich nicht so richtig wusste, wohin mit mir. Dementsprechend brauchte es etwas Zeit, bis ich als Erzieher einigermaßen klarkam. Länger als zwei Jahre in drei Kindergärten hielt ich es damals auch nicht aus. Nach einem kurzen Intermezzo als Taxifahrer sammelte ich einige brauchbare Erfahrungen als Kinderanimateur in Familienhotels. Als Schauspieler machte ich hin und wieder ein paar kleine Projekte mit Schulklassen. Trotzdem kam ich mir wie ein Betrüger vor, als ich 2011 meine Stelle antrat. Sicher würde man rasch merken, dass ich vollkommen unfähig war, denn ich konnte mich an nichts mehr erinnern, was ich in meiner Ausbildung gelernt hatte. In den ersten Wochen musste ich einige Kämpfe ausgetragen, die mich dazu veranlassten, nach Feierabend meine Bettdecke voll zu heulen. Ein Zurück gab es aber nicht mehr. Da hätte das Jobcenter nicht mitgespielt. Also musste ich irgendwie da durch. Ich war zwar kein Singkreis- und Bastelerzieher, aber ich konnte den Kids einiges anbieten, was ich als Kinderanimateur gelernt hatte. Damit hielt ich mich erstmal über Wasser. Bevor ich etwas mit Theater anbot, musste ich mich in den Grundschulalltag reinkämpfen. Aber irgendwann war es soweit. Ich machte Werbung für meine Theater AG. Mein erster Kunde war Kasim, der Schüler, der mir das Leben bei meinem Einstieg regelrecht zur Hölle gemacht hatte.  Da er ein Anführer typ war, zogen noch eine Handvoll anderer Jungen nach.  Das war ein guter Schritt vorwärts für mich, um in dieser Schule anzukommen … und eine weitere Herausforderung. Trotzdem! In den folgenden Jahren sollte sich mehrmals erweisen, dass Schüler, die ihre Pädagogen besonders herausfordern, einfach nur auf der Suche nach höheren Aufgaben sind.

 

Ich sprach mit meinem ebenfalls schauspielinteressierten Kollegen Mesut über den Gedanken, etwas Eigenes mit den Schülern zu entwickeln und er hatte die Idee, jeden der Mitspieler erst mal auf die Bühne zu schicken und ihn eine interessante Geschichte aus seinem Leben erzählen zu lassen. Als Improvisation sozusagen. Als wir das ausprobierten, merkte ich rasch, dass diese Aufgabe ziemlich hoch gegriffen war. Zumal die Teilnehmer einen weit geringeren Wortschatz hatten, als Schüler aus deutschen Herkunftsfamilien. Ich erweiterte die Möglichkeiten und schlug vor, dass sie sich alternativ eine Geschichte ausdenken könnten und die Zuhörer sollten raten, ob sie stimmt. Das war außerdem eine gute Methode, um einen Kniff zu vermitteln, der beim Schauspiel sehr hilfreich sein kann: „Gut lügen.“ Jetzt fiel ihnen schon etwas mehr ein, aber es reichte immer noch nicht, um zusammenhängende Geschichten zu basteln.

 

Also gab ich es ihnen als Hausaufgabe mit. Wenn sie ganz ohne Druck zu Hause sitzen und sich entspannen können, würde ihnen sicher etwas einfallen. Fehlanzeige! Zu Hause wurde freiwillig nichts gemacht. Schließlich holte ich sie mit Erlaubnis der Klassenlehrerin aus dem Unterricht, um mit ihnen eine Geschichte zu entwickeln. Immerhin handelte es sich hier ja um Deutsch Sprachförderung.

 

Durch die Geschichten, die die Schüler mir dabei erzählten, bekam ich einen interessanten Zugang zu ihrer Lebenswelt. Das half mir dabei, sie nicht mehr als kleine Monster zu betrachten, die mich in den sicheren Herztod treiben wollten.

In einigen Details hatten die Jungen übertrieben, um sich als besonders cool und verwegen darzustellen. Ich fand die Übertreibungen so offensichtlich, dass ich überlegte, wie man den Zuschauern das als wahre Geschichten verkaufen sollte. Dann wurde mir klar, dass gerade diese Übertreibungen die Erzählungen der Kids richtig authentisch machen. Denn sie sind ja nun mal größtenteils ziemliche „Angeber“. Damit hatte ich schon die Hälfte des Titels gefunden. Die andere Hälfte fand sich bei dem Versuch, Kraftausdrücke zu finden, die keine Empörung bei genau hinhörenden Zuschauern hervorrufen würde. Selbst erfundene Schimpfworte sozusagen. Ich bat die Darsteller also, kreativ zu sein und sie nahmen die Aufgabe dankbar an. Wer auf die Idee mit dem Schlappkopf kam, weiß ich nicht mehr, aber ich liebte sie. Nebenbei setzten wir uns mit dem Thema Kraftausdrücke auseinander. Was ist wirklich verletzend? Was ist beleidigend? Was ist vielleicht sogar witzig? Warum benutzt man sie? Was bewirken sie?

 

 

 

Schließlich hatten wir ein paar sehr authentische Monologe entwickelt, die inhaltlich, charakterlich und sprachlich der Mentalität der Erzähler entsprachen und gleichzeitig für die Zuschauer verständlich waren. Außerdem wurde der Gebrauch von Kraftausdrücken so ausgewogen eingesetzt, dass das Theaterstück nicht der Zensur zum Opfer fallen würde. 

 

Das Alles nahm mehr Zeit als vermutet in Anspruch. Mangels Erfahrung dachte ich ja, die Kids stellen sich auf die Bühne, erzählen eine Geschichte, wir schreiben mit, sie lernen den Text in einer Woche auswendig und nach einem Monat können wir zum nächsten Punkt übergehen: Der Rahmengeschichte die sich um die Monologe spannt! Tatsächlich waren  drei Monate vergangen bis wir die Monologe zusammengeschrieben hatten. Auswendig gelernt wurde bis dahin fast noch gar nichts. Ich dachte, dass kommt bestimmt mit der Zeit und schrieb munter weiter an unserem Skript. Die Monologe bettete ich in eine Geschichte über eine Gruppe Jungen ein, die sich nach Unterrichtsschluss im Klassenraum versteckten, um die Schule auf den Kopf zu stellen, aber leider keinen Schlüssel hatten um das Zimmer wieder zu verlassen. Ich bat die Schüler sich vorzustellen, was sie alles anstellen könnten, wenn sie die Schule tatsächlich für sich allein hätten. Diese freche Idee war ein toller Motivator für sie, um sich in die Proben hineinzuknien. Langsam ging es vorwärts mit unserem Projekt. Mert stieß später dazu, also baute ich ihn als einen Schüler ein, der im Unterricht eingeschlafen war und somit unfreiwillig länger in der Schule blieb. Dieser „Zufall“ kombiniert mit der Persönlichkeit von Mert, der sich sehr von den anderen Jungen unterschied, gab der Geschichte eine sehr interessante Wendung und trieb die Handlung weiter voran. Im wirklichen Leben war Mert ein vernünftiger und friedfertiger Junge. Und ein Außenseiter. Das nahm ich in die Handlung mit rein. Aber ich wollte ihn in seiner Rolle auch mal ein alternatives Verhalten ausprobieren lassen. Auszurasten anstatt immer der vernünftige Junge zu sein!

 

Theater bietet eine tolle Möglichkeit, um „indirekt“ mit den Schülern über ihre Gefühle und ihr Verhalten zu reden. „Indirekt“, weil diese Gespräche ja der Entwicklung der Figur dienen, die sie spielen. Und ganz nebenbei redet man ebenfalls über die Gefühle und das Verhalten der Schüler. Hier gebe ich mal zwei Beispiele, wie man Theater „therapeutisch“ nutzen kann.

 

1.      „Pass auf Mert. Normalerweise bist du ja eher ein ruhiger Junge, der immer sehr vernünftig ist und manchmal seinen Ärger runterschluckt. Auf der Bühne sollst du aber einen Jungen spielen, der wütend wird und ausrastet, wenn andere ihn provozieren.“

 

2.      „Hör mal Djihad. Ich möchte, dass du Mert genauso provozierst, wie du das auch sonst immer mit deinen Mitschülern machst. Ich habe ja schon beobachtet, dass du manchmal einfach nicht aufhören kannst, bis sie total durchdrehen und auf dich losgehen. Wenn du ehrlich bist, macht dir das ja tatsächlich ein bisschen Spaß, wenn die wütend werden, oder?

 

Djihad (grinst verlegen): Na ja, stimmt schon!

 

Ich: Kann ich auch irgendwo verstehen. Für diese Szene ist das total super und ich will, dass du den Spaß, den du daran hast, richtig zeigst. Es ist mir aber wichtig zu betonen, dass dieses Verhalten im wirklichen Leben bedeutet, dass du den anderen Kindern seelisch damit weh tust. Das ist dir wahrscheinlich gar nicht klar, sonst würdest du das nicht machen. Da bin ich sicher. Oder willst du den Anderen seelisch weh tun?

 

Djihad: Nee, eigentlich nicht!

 

Ich: Habe ich mir gedacht. Und jetzt leg los! Hier auf der Bühne kannst du so richtig gemein sein. Und nur hier, okay?

 

 

 

In der Handlung spiegelte sich das folgendermaßen wieder: Djihad mobbt sich gegen Mert in einen regelrechten Rausch und kommt erst runter, als Pietro erzählt, dass ein Rachegeist durch die Schule läuft, der sich alle Mobber holt. Pietro ist ein gutmütiger Schüler mit einer schrägen Phantasie.  Insofern passt diese Art, Mert zu beschützen sehr gut zu ihm. Auch Kasim zeigt sich allmählich von seiner weichen Seite, als er merkt, wie sehr Mert getroffen ist. Schließlich wird Djihad bewusst, was er getan hat und er entschuldigt sich. Er streichelt Mert über den Bauch. Mir ist aufgefallen, dass die Jungen aus der Türkei und aus arabischen Ländern in diesem Alter (10 – 12) mehr körperliche Nähe mit anderen Jungs zulassen können. Sie massieren sich manchmal sogar gegenseitig und streicheln ihren Mitschülern gedankenverloren durch die Haare ohne sich etwas dabei zu denken.

 

 Im Verlaufe der Proben passierte etwas, dass ich „aus Scheiße Gold machen“ nenne:

 

Gerade erst hatten wir mit einigen Aufwärmübungen eine konzentrierte und spannungsgeladene Atmosphäre auf der Bühne aufgebaut. Die Darsteller warteten im kleinen dunklen Raum im Backstage - Bereich auf ihren Auftritt. Ich las den Einführungstext vor, an dessen Ende der erste Schüler auftreten sollte. Plötzlich war (wieder einmal) lautes Gemurmel und Geschimpfe hinter der Bühne zu hören. „Was ist denn jetzt schon wieder los?“ rief ich verzweifelt. „Pietro hat gepupst“ rief Selimhan. „Na toll,“ sagte ich ironisch. „Danke Pietro“. Dann stutzte ich: „Toll! Danke Pietro! das bauen wir gleich mit ins Stück ein.“ Und um die dicke Luft etwas zu entschärfen: „Das machst du jetzt bitte jedes mal. Du lässt einen fahren (bei der Gelegenheit hatten die Schüler wieder eine neue deutsche Redewendung kennen gelernt) und die anderen sind stinksauer auf dich. Das kommt bestimmt gut beim Publikum an. „Wie soll ich das machen?“ rief er verzweifelt! „Üben Pietro, du bist doch ein fleißiger Junge. Falls es mal nicht klappt, können die anderen ja so tun, als ob du gefurzt hast.“

 

 Als ich das Theaterstück endlich fertig geschrieben hatte, konnten die meisten Jungen ihren Monolog immer noch nicht. Safa und Egzon verloren die Lust am Theater, weil sie merkten, dass sie durch die Proben weniger Zeit zum Fußball spielen hatten. Zwar dachte ich daran, an dieser Stelle alles hinzuschmeißen, aber mir war auch klar, dass ich das Thema „Schultheater“ dann erst einmal vergessen könnte. Es ging ja darum, was Geiles zu zeigen, damit die zuschauenden Schüler ebenfalls Lust auf Theater bekommen. Außerdem motivierte Kasim mich dazu weiterzumachen, weil er unbedingt auf der Bühne stehen wollte. Er überzeugte Selimhan davon, in das laufende Stück einzusteigen. Ausgerechnet Kasim, der Junge, der mich anfangs ständig an meine Grenzen brachte, trug maßgeblich dazu bei, dass es dann doch weiter ging.

 

Ich schrieb das Stück also um. Selimhan bekam zum größten Teil den Text von Egzon. Den Text von Safa verteilte ich auf die anderen. Da Mert der einzige war, der seinen eigenen Monolog lernte und da Pietro der einzige war, der seinen Monolog „ein bisschen“ lernte, strich ich alle Monologe bis auf den von Mert und bis auf „ein bisschen“ von Pietros Monolog. Ich war mir eh nicht sicher, ob es angemessen wäre, was von einem durchgedrehten Nawi Lehrer zu erzählen, der seine Schüler mit der Kettensäge jagt.

 

Wenn einer der anderen noch seinen Monolog lernen wollte, umso besser.

 

Inzwischen waren meine Ansprüche an das Ergebnis auf ein Minimum gesunken. Ich wollte das Stück einfach nur zum Ende des Schuljahres irgendwie auf die Bühne bringen. Die Realität hatte mich Demut gelehrt.

 

Selimhan war ein völlig anderer Typ als Egzon. Egzon war ein schlicht gestrickter Kerl, der nur Fußball im Kopf hatte und schnell zulangte, wenn ihm jemand schräg kam. Er zeigte wenig Initiative und lief meistens Kasim hinterher. Bei Mafiafilmen wäre Kasim der Pate gewesen und Egzon sein Mann fürs Grobe. Dementsprechend hatte ich seine Rolle geschrieben. Selimhan war einerseits feinsinnig und von rascher Auffassungsgabe, aber andererseits auch sehr kindlich. Ich stellte ihm eine Wasserpistole zur Verfügung und machte ihn zu einer Art kleinen Jungen der einen verwegenen Cowboy spielt. Das klappte total gut. Abgesehen davon, dass eine Kollegin mich am Ende fragte, ob es, angesichts der Amokläufe an amerikanischen Schulen nicht geschmacklos sei, einen Jungen mit Waffe auf die Bühne zu stellen. Ich atmete ein paar Mal entspannt durch die Nase und antwortete … ehrlich gesagt, weiß ich gar nicht mehr genau, was ich antwortete, denn ich war hauptsächlich damit beschäftigt, ruhig durch die Nase zu atmen und nicht auszusprechen, was ich gerade dachte. Immerhin war ich aufgrund der Premierensituation etwas angespannt … ich glaube, die Spritzpistole war sogar rosa … na ja. Bevor es zum dramatischen Finale kommen sollte, hatte ich eine besinnliche, etwas nachdenkliche Szene eingebaut. Die Darsteller konnten sich an dieser Stelle von ihrer weichen und verletzlichen Seite zeigen. Dadurch bekam das Stück eine gewisse Tiefe.  Zum Abschluss musste es dann aber knallen. Die Jungen merken, dass sie Mist gebaut haben und in der Patsche sitzen. Djihad drückt auf den Alarmknopf, weil er Panik hat, über Nacht in der Schule eingesperrt zu bleiben und dann wird kräftig gerappt.  In unserem Schulalltag spielte dieser kleine rote Schalter übrigens eine bedeutende Rolle. Denn es verging keine Woche, ohne dass irgendein Schlaumeier das Alarmkästchen zerdepperte und den Knopf drückte. Inzwischen konnten die meisten Kinder auf unserer Schule die Sirene täuschend echt imitieren. Das wurde im Rap eingebaut. Das Thema Mobbing wird hier nochmal auf humorvolle Weise aufgegriffen indem Djihad das Publikum anfeuert, ihn mit dem Satz „Djihad, schäm dich“ zu „mobben“. Das kann und darf gerne provokativ aufgefasst werden, Tatsache ist aber, dass sich viele Konfliktsituationen im Schulalltag mit etwas Humor auflösen lassen. Nicht alle, aber wirklich viele. Von unserer Uraufführung war ich nicht so begeistert, obwohl es viele lobende Worte gab. Vielleicht war mein Anspruch immer noch zu hoch. Die Schauspieler waren aber stolz auf sich, und die zuschauenden Schüler fanden es sehr cool, weil gangstermäßig.

 

Die ungekürzte Fassung von „Schlappköpfe und Angeber poste ich als „Extended Version“.

 

Mit etwas mehr Zeit hätte ich vielleicht noch den einen oder anderen Monolog in der Unterrichtszeit üben können, aber ich war froh, dass das erste Projekt beendet war und ich mit all den gesammelten Erfahrungen etwas Neues starten konnte. Tatsächlich ist mein Wunsch in Erfüllung gegangen. Einige Schüler, die das Stück gesehen hatten, wollten unbedingt bei der nächsten Theater - AG dabei sein.

 

 

 

„Schlappköpfe und Angeber“ ist durch seine Kürze ideal für eine kleinere Theatergruppe die wenig Zeit zum Proben hat. In Brennpunktschulen haben die meisten Schüler Probleme, Text auswendig zu lernen, weil sie noch nicht so gut Deutsch können. Deswegen sind in diesem Stück Rollen für Schüler dabei, die nur wenig Text und kurze Sätze haben. Es sind fast durchgehend alle Darsteller auf der Bühne und an der Handlung beteiligt. Das bedeutet keine langen Wartezeiten bis man dran ist. Monologe sollten einzeln geprobt werden.

 

 

 

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