Dokumentation von Hänsel und Gretel

 

 

 

 

Die Entwicklung von „Hänsel und Gretel“ hatte den überraschendsten Verlauf aller Theaterstücke, da ich ursprünglich überhaupt keine Lust auf die Umsetzung hatte. Ich wurde von der Elternsprecherin gebeten mit unserer Schulklasse „irgendwas Kleines“ zur Winter - Klassenfeier aufzuführen. Zu diesem Zeitpunkt arbeitete ich schon an zwei anderen Theaterstücken und war ausgepumpt und lustlos. Bezugserzieher der Klasse 6a zu sein war ein anstrengender und undankbarer Job. Erst vor ein paar Monaten hatten wir gemeinsam ein umfangreiches Projekt auf die Bühne gebracht: „Alltagsgeschichten“! Viele der Kinder erwiesen sich dabei als talentiert und hatten eine tolle Bühnenpräsenz entwickelt. Allerdings waren sie auch ebenso streitbar, störrisch und „eingebildet“. Mir reichte es einfach. Also versuchte ich mir etwas „Kleines“ ohne großen Aufwand zu überlegen. Die Klasse könnte was winterliches rappen: Wir dichten einen Rap mit 26 Zeilen, so dass jeder Schüler eine Zeile hat. Dann muss auch niemand großartig auswendig lernen. Der Rap wird lustig vor den Eltern aufgesagt und schon hat die Elternsprecherin ihren Willen. Als ich den Kindern meinen Vorschlag unterbreitete, kamen sie auf die Idee lieber Hänsel und Gretel vorzuspielen. Ich fand das unrealistisch: Wir hatten nur sehr wenig Vorbereitungszeit und bei diesem Märchen gab es kaum Rollen zu verteilen. Dann überraschten sie mich aber mit ihren Kenntnissen und ihrem Interesse an „Hänsel und Gretel“. Da sie ja vorwiegend nicht deutscher Herkunft waren und aus keinen Elternhäusern kamen, in denen regelmäßig Märchen vorgelesen wurden, hatte ich nicht viel aus dieser Richtung erwartet. Es war irgendwie berührend in diesen frühpubertierenden Zicken und Rabauken einen Hauch verträumter Kindlichkeit zu entdecken.  Plötzlich sprühten sie vor Ideen und Mitteilungsbedürftigkeit: „Es kommt ja auch ein Schwan in dem Märchen vor, ein Vögelchen, die Bäume die Kieselsteine, der Mond die Sonne, der Hühnerknochen“ … diese Stunde, in der wir gemeinsam Ideen suchten und über Hänsel und Gretel redeten, war die schönste Stunde die ich gemeinsam mit der Klasse erlebte. Es floss einfach! Ich machte mir Notizen und versprach, mich an die Arbeit zu machen.

 

Die Zeit war knapp. Vorrangig ging es jetzt darum, möglichst viele Rollen mit möglichst wenig Text zu entwickeln.

 

Am nächsten Morgen holte ich mir Hänsel und Gretel aus dem Internet und suchte im ersten Durchgang die Stellen heraus, bei denen Text gesprochen werden konnte. Damit wurden erst einmal die klassischen Spielrollen abgedeckt: Hänsel, Gretel, Die Stiefmutter, der Vater und die Hexe. Alles andere ordnete ich dem „Erzähler“ zu.

 

Dann versetzte ich mich in die Kieselsteine und die Bäume: Die Kieselsteine werden auf den kalten Boden geschmissen. Das ist unangenehm. Da haben die bestimmt keinen Bock drauf. Super! Und die Bäume? Wie könnten die in Bewegung gebracht werden? Feuerholz! Na klar! Dadurch werden die Bäume erst richtig interessant. Am Anfang stehen sie gelangweilt im Wald herum, aber dann sagt der Vater plötzlich was von Feuerholz und versetzt die Bäume in Panik. Ja! Und die Brotkrumen können wir uns sparen, da die Kieselsteine von allein weglaufen. Aber was passiert jetzt mit diesem Brot? Das wird von den Raben aus dem Rucksack geklaut! Gretel ist in diesem Märchen die Stärkere und Hänsel ist die Heulsuse, die bei jedem Problem „Hilfe, Panik, Not schreit. Der Schwan bringt die beiden nicht brav ans andere Ufer, sondern verarscht sie nach Strich und Faden. Den Lauf der Zeit sieht man am Mond und an der Sonne, die sich regelmäßig mit „Zisch ab“ und „verzieh dich“ von der Bühne jagen. Dem Vater laufen die Kinder bei der Rückkehr nicht freudestrahlend in die Arme. Sie jagen diesen Verräter zum Teufel! Dann verkaufen sie die Juwelen der Hexe an einen Hehler und machen aus dem Elternhaus, in dem es ja nun keine Eltern mehr gibt, ein Restaurant. In Gedenken an den Schwan, der sich weigerte die Kinder über den Fluss zu tragen, so dass sie die Fähre nehmen mussten, nennen sie das Restaurant „zum gegrillten Schwan.“ Ende gut, alles gut.

 

Nach vier Stunden hingebungsvollem fließen lassen stand die Geschichte zu 90 %. Der Rest sollte sich beim Proben ergeben.

 

Am meisten Text hatte Gretel. Da es drei Mädchen aus der Klasse nach der weiblichen Hauptrolle dürstete, bekamen auch alle drei ihren Willen. Sie teilten die Rolle unter sich auf. Zum Wechseln suchte ich ihnen Stellen heraus, in denen Gretel schlief und das Bühnenlicht runtergefahren wurde. Auch den Erzählertext verteilte ich auf drei Schüler.

 

Die Klassenfeier (Eltern + Schüler) fand im Klassenraum statt. Dementsprechend provisorisch war auch das Bühnenbild. Das Hexenhaus bestand aus zwei Tischen, die dem Haus der Eltern diametral gegenüberstand. Auch der Ofen war ein Tisch. Eigentlich bestand alles aus Stühlen, Tischen und Tüchern. Das zeigt mal wieder, dass Bühnenbilder völlig unwichtig sind, solange die Geschichte gut erzählt wird. Als die Winterfeier stattfand, war ich leider krank, aber mir wurde erzählt, wie begeistert alle von der Aufführung waren. Auch die Schuldirektorin hatte zugesehen. Daraus resultierte, dass ich einige Wochen später gefragt wurde, ob die Schüler Hänsel und Gretel nicht noch einmal beim Lesepatentreff zeigen könnten. Jetzt wurde das Ganze nochmal neu für die Bühne geprobt. Von Seiten der Schüler mit weniger Begeisterung als vorher, denn es war ja nicht mehr freiwillig, sondern alle Beteiligten „mussten“ nochmal ran. Ich machte erst einmal Leseproben im Klassenraum, um den Text aufzufrischen und mir schlug gähnende Lustlosigkeit entgegen. Es waren also wieder Kampfproben angesagt: „Motivieren und provozieren!“ Die Hexe war zum Beispiel eine klasse Darstellerin mit starker Präsenz. Da sie aber schon perfekt war, was sollten dann noch die doofen Proben? Also tat ich so, als würde ich gar nicht wissen, dass sie so gut wäre und kitzelte ihr Ego. Ich glaube, dass hatte sie mir nie verziehen. Na ja, mein eigenes Ego ist ja auch nicht ohne. Sie sollten mich auf keinen Fall „blamieren“.  Im Rahmen der Winterfeier hatte ich keine großen Ambitionen, da das Stück ja nur im kleinen Kreise gezeigt wurde. Jetzt wurde es offizieller und mein Perfektionismus meldete sich. Diesmal choreografierte ich alles genauer durch. Die Stelle an der Hänsel und Gretel die Kieselsteine auf den Boden warfen, während die Eltern vorausgingen war besonders arbeitsintensiv. Immerhin werden die Steine ja auf den Boden geworfen und haben einen kurzen Dialog mit Hänsel und Gretel, während die Eltern vorausgehen. So eine Szene wird “Wischiwaschi“, wenn man nicht aufpasst. Jeder muss genau wissen, was er an welcher Stelle zu tun hat: Die Eltern gehen voraus, dahinter Hänsel und Gretel und hinter den Kindern laufen die Kieselsteine gebückt hinterher. Nach drei Schritten wird der erste Kieselstein hin geschubst. Während des Dialoges bleiben die Eltern ebenfalls stehen, runzeln die Stirn, schauen sich an und fragen die Kinder  dann: „Ist was?“

 

 

 

Kieselstein 1: Autsch! Ey!

 

(will wieder aufstehen)

 

Gretel: Schön liegen bleiben!

 

Kieselstein 1: Ist ja gut!

 

(Kieselstein legt sich wieder hin)

 

Vater und Stiefmutter: Ist was?

 

Kinder: Nix!

 

(Kieselstein 2 wird hingeworfen)

 

 

 

 

So geht es weiter bis zum dritten Kieselstein. Dann finden sie eine Lichtung mit passendem Brennholz. Die jammernden und zeternden Bäume werden aufeinandergelegt und der Vater nähert sich ihnen mit einem drohenden: „Das Holz ist schön trocken. Das wird richtig gut brennen.“ Die Behauptung der Bäume, dass sie klitschnass wären und gar nicht gut brennen, ignoriert er. Um das Feuer zu symbolisieren, legten wir eine rote Decke über die Bäume, die von Hänsel und Gretel hoch und runter geschwungen wurde. Ich leuchtete es noch gelb an und ließ das Licht ein wenig flackern. Kurz nach der Entzündung des Feuers rennen die Bäume schreiend von der Bühne ab und das „Feuertuch“, bleibt als Lagerfeuer für die nächste Szene liegen. Richtig glücklich war ich mit dieser Lösung nicht, aber unsere technischen Möglichkeiten sind nun mal begrenzt. Wenn du eine interessante Idee hast, wie man diese Szene anders lösen könnte, lass es mich bitte über das Kontaktformular wissen.

 

Die Kinder schlafen am Lagerfeuer ein und werden von den Eltern verlassen, von den Kieselsteinen im Stich gelassen und von den Raben bestohlen. Unser genialer Hänsel - Darsteller hatte also dreimal die Möglichkeit „Ahhh, Hilfeeee, Paaanik, Nooot“ zu schreien. Er hatte seine Technik inzwischen perfekt drauf: Wahrnehmen was passiert ist, die Information mit verdutztem Gesicht verarbeiten, die Augen in Erkenntnis der Katastrophe aufreißen und dann losschreien. Es machte einfach Spaß, ihm dabei zuzusehen. Natürlich ist es keine Selbstverständlichkeit, dass die Schüler die Vorgaben des Regisseurs auf diese Weise umsetzen können. Im Gegenteil! Aber wenn es passiert, schießen mir Freudentränen in die Augen und ich genieße diesen Lohn, der mit Geld nicht aufzuwiegen ist: Magische Theatermomente mitten im Schulalltag!

 

Für das weiße Vögelchen, dass Hänsel und Gretel zum Hexenhaus führte, bot sich eine tänzerisch begabte Mitschülerin an, denn sie sollte ja vor den Kindern herfliegen. Eine kleine, aber sehr feine Rolle in der sich unsere junge Kolumbianerin leider sehr albern vorkam. Ich wollte diese Szene auch ein wenig komisch gestalten und bat sie, sehr übertrieben: „Tirilli, Tirilli“ zu machen. Bei der Aufführung war sie dann krank und musste kurzfristig, vom Mond ersetzt werden.  Im Nachhinein hätte ich sie lieber nachdrücklicher gefragt, wie sie die Szene gerne interpretiert hätte, anstatt meinen Kopf durchzusetzen. Zwar ist nicht jeder Schüler in der Lage seine Rolle selbst zu interpretieren, jedoch sollte man es ihnen zumindest anbieten, wenn sie sich unwohl in ihrer Haut fühlen. In diesem Falle hatte ich es mit einem Mädchen zu tun, dass ihre Unsicherheit mit eitlem Getue überspielte und nicht in der Lage war, über sich selbst zu lachen. Es ist eine schwer aufzulösende Haltung, wenn jemand sich so stark an seine Fassade klammert.

 

Eine weitere Szene, die Hänsel und Gretel sehr exakt gespielt hatten, war die, wo Gretel dem Hänsel „schonend“ versucht beizubringen, dass die Hexe ihn essen will. Bevor sie es Hänsel mitteilt, bittet sie ihn, sich nicht gleich wieder aufzuregen, weil ihr sein Temperament ja hinlänglich bekannt ist:

 

 

 

Gretel: Weißt du Hänsel, wir haben ein Problem. Aber jetzt nicht gleich wieder ausrasten, wenn ich es dir sage. Bleib cool! Ok?

 

Hänsel: Alles klar. Ich bin gechillt. Was gibt’s denn?

 

Gretel: Also … Die Alte will dir in der nächsten Zeit ordentlich zu essen geben … zum Beispiel Gans, Kartoffeln, Hummer, Schweinebraten …

 

Hänsel: Jaaa! Coooool! Endlich regelmäßige Mahlzeiten!

 

Gretel: … und wenn du fett genug bist, will sie wiederum … dich … essen!

 

Hänsel: (begreift nur sehr langsam) Mich? … essen?

 

Gretel: Genau! (Gretel sagt das triumphierend, weil sie erleichtert ist, dass Hänsel sich nicht aufregt, Das wirkt, richtig gespielt, urkomisch. Es hat auch einen Beigeschmack von: „Super, du hast es kapiert!“)

 

Hänsel: Aaaah! Hilfeeee! Paaaaaanik! Noooooot! (Gretel verdreht genervt die Augen)

 

 

 

Der nächste Schritt war die Teilnahme an den Spandauer Grundschultheatertagen, die einmal jährlich in der Jugendtheaterwerkstatt Spandau stattfinden. Hier beeindruckten diese Schüler das Publikum und den Veranstalter schon im Vorjahr mit ihrer reifen und selbstbewussten Performance. Ich stieß im Internet noch auf den Kostümkreisel von „Berlin macht mit e.V.“, der als gemeinnütziger Verein unentgeltlich Kostüme und sogar Requisiten für Schultheaterstücke entwarf und leihweise zur Verfügung stellte. Die kamen auf die Idee, Gretel als Gruftie und Hänsel als Punk zu kleiden. Alle drei Gretels bekamen das gleiche Kostüm in verschiedenen Größen. Die Näherinnen machten auch die Fassade für eine Käfigtür, einen riesigen Backofen, sowie für das Hexenhaus.  Leider gibt es den Kostümkreisel mangels Förderung nicht mehr. Die Aufführung war aber ein Kracher und die Hexe war so verdammt gut, dass ich sie dafür hätte würgen können, dass sie das bei den Proben noch nicht gezeigt hatte. Ihre klare Botschaft war: „Was soll ich denn üben? Ich kanns doch!“ … Ja, ich gebe es zu! Es bestand nicht zu allen Darstellern ein herzliches Verhältnis. Zu jeden habe ich eine andere Beziehung. Und über jeden einzelnen mache ich mir Gedanken. Manchmal ist das bereichernd, manchmal entnervend. Auf alle Fälle kann man daran wachsen.

 

Die Krone von dieser Geschichte war aber, dass ausgerechnet das Theaterstück, welches ich mal kurz hinter mich bringen wollte, das Theaterstück war, welches als erstes von einem Theaterverlag ins Programm aufgenommen wurde. Ironie des Schicksals!

 

Wenn du auch an der Auseinandersetzung mit „Hänsel, Gretel und der Hexe wachsen möchtest, dann kannst du die Texthefte und die Aufführungsrechte, beim deutschen Theaterverlag bestellen.

 

Das Stück ist super geeignet für Schüler, die einfach mal auf der Bühne sein wollen, ohne viel Text zu lernen. Und es ist variabel in der Mitspielerzahl. Man kann eine, zwei oder drei Gretels einsetzen und dasselbe gilt für die Rolle des Erzählers. Du kannst auch gut und gerne ein bis zwei Kieselsteine, Bäume oder Raben hinzufügen und deren Text anders aufteilen. Die Raben und der weiße Vogel haben übrigens überhaupt keinen Text.  Bestell auf jeden Fall erst einmal eine kostenlose Leseprobe und lasse dich inspirieren. Viel Spaß! Sag mir bitte, wie es gelaufen ist.

 

 

 

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