Dokumentation von Abschlussball

Mein zweites Theaterstück war „Abschlussball“. Nachdem „Schlappköpfe und Angeber“ gezeigt wurde und die Darsteller als „Local heroes“ durch die Gegend stolzierten, bat mich fast eine komplette Schulklasse, mit ihnen auch ein Theaterstück zu machen. Sie wollten gern die selbe Grundidee nutzen wie ihre Vorgänger: „eine Gruppe Schüler stellen nach Unterrichtsschluss die Schule auf den Kopf.“ Diesmal fragte ich einfach, was sie gerne zeigen würden. Der Tenor war: „Kampfszenen, rappen, tanzen, modeln!“ Wie konnte ich diese verschiedenen Wünsche unter einen Hut kriegen? Klar, als Wettbewerb!  Ein Wettbewerb um den Titel des Ballkönigs bzw. der Ballkönigin sollte den Rahmen für ihre Talente bieten. Allerdings war mir wichtig, dass am Ende keiner der Gewinner des Wettbewerbes sein sollte. Genauso wenig wollte ich, dass irgend jemand die Hauptrolle zugewiesen bekommt. Das hätte bei diesen Schülern eine Menge Frust und Feindseligkeit ausgelöst. Es handelte sich um eine sehr streitbare Klasse, in der die streitenden Parteien sehr klar in Jungs und Mädchen aufgeteilt waren. Ansonsten gab es noch die üblichen Außenseiter und natürlich auch beste Freunde, die am nächsten Tag schon beste Feinde sein konnten. Ich hatte sehr viele Originalzitate der Schüler in den Theatertext aufgenommen. Es waren hauptsächlich Sprüche, die besonders oft zu hören waren und die typischen Konflikte der Schüler untereinander und mit dem pädagogischen Personal wiederspiegelten. Darauf komme ich noch zurück!

 

In Abschlussball hatten die Schüler für sich Bühnennamen wie M. Ali, Eko Fresh oder Tupac gewählt. Wenn jemand das Stück mit Schülern aufführen möchte, würde ich ihm auf jeden Fall empfehlen, den Schülern zu erlauben, sich eigene Namen auszusuchen. Das wirkt ungeheuer motivierend. Ein weiterer großer Vorteil von Abschlussball ist, dass sehr viele Schüler sehr wenig Text haben und manche Rollen auch spielbar für Kinder sind, die kaum Deutsch können. Der Hausmeister ist z.B. von einem Jungen gespielt worden, der gerade erst neu in Deutschland war. Die Sätze, die er zu sprechen hatte waren dementsprechend schlicht und kurz. Dadurch wirkt „Abschlussball“ sehr integrativ.

 

Das ganze Projekt war sehr „wild“. Wir hatten keine festen AG Zeiten zum Proben und so übten wir oft spontan, wenn ich mal einige Schüler aus dem Unterricht entwenden konnte, bei Unterrichtsausfall und in der Freizeit. Damals war mir gar nicht bewusst, dass es keine Selbstverständlichkeit ist, mit den Schülern in ihrer Freizeit zu proben. Die Bereitschaft, Freizeit für das Projekt zu opfern war in dieser Schulklasse höher, als bei all ihren Nachfolgern. Das gilt allerdings genauso für die Streitbarkeit der Protagonisten, die mir zeitweise den letzten Nerv raubten und mich dazu animierten meine Kasernenhofstimmlage zu kultivieren. Es ist vorgekommen, dass ich genervt die Proben abbrach und zu ihnen sagte, dass sie sich melden sollten, wenn sie das Gefühl hätten zum Proben in der Lage zu sein. Freudig rannten sie auf den Schulhof und ließen einen beleidigten Erzieher zurück. Ich dachte schon: „Das wars. Die haben echt keine Lust mehr.“ Nach einer Viertelstunde kamen sie aber geschlossen zu mir und baten mich, weiter zu proben. Tja, damit hatten sie mir wieder was beigebracht.

 

Nach und nach kamen auch die Mitschüler ins Projekt, die ursprünglich noch nicht dabei waren. Liridon war gerade neu in der Klasse, konnte kaum deutsch und hatte keine Ahnung was er genau machen wollte. Deswegen entwickelte ich für ihn die Rolle des Hausmeisters. Er durfte also nur wenig Text und unkomplizierte Sätze haben. Zuerst hatte er nur die Szene, in der er von Jasmin in der Besenkammer eingesperrt wurde. Dann kam aber noch ein Mädchen dazu, die in der Klasse so eine Art Außenseiterin war (Allerdings eine, die sich wehren konnte) und wir erweiterten Liridons Szene um den Dialog mit der Putzfrau. Taner (Jean-Paul) und Asmir stießen ebenfalls nachträglich dazu. Die beiden waren kaum zu bändigen und sprengten sämtliche Proben, sobald ich mich mal nicht direkt mit ihnen beschäftigte. Das war ein Problem, was mir später noch oft begegnen sollte. Schüler, die wirklich gut mitarbeiten, wenn man sich mit ihnen beschäftigt, aber alles aufmischen, sobald sie mal warten müssen, bis sie mit ihrem Einsatz an der Reihe sind. Um sie trotzdem integrieren zu können, gab ich den beiden eine Szene, die ich allein mit ihnen proben konnte. Mamalaci kam erst nach einem halben Jahr dazu und wurde als Mörder integriert. Ursprünglich war für den Mörder keine Rolle vorgesehen. Die Schüler sollten nur immer das Gerücht verbreiten, dass ein Mörder frei herumlief, ohne dass er jemals wirklich auftauchte. Das änderten wir, als Mamalaci am Ende einstieg. Er hatte nur einen Satz zu lernen. Wie gesagt, bei diesem Theaterstück hieß es für viele: Dabeisein ist alles! Sie hatten nur mitgemacht, um nicht außen vor zu bleiben und das war vollkommen Ok.

 

Wir hatten eigentlich geplant, dass die Jungs und die Mädchen jeweils einen Tanz selbstständig einstudieren und am Ende einbauen. Geklappt hatte das nur mit den Jungen. Die Mädchen waren einfach zu perfektionistisch und hatten sich ständig gestritten. Harte Konsequenz: „Wenn ihr euch nicht einigt, bekommt ihr auch keinen Tanz!“ Und so hatten wir das auch durchgezogen. Zu diesem Zeitpunkt hatten mich die Pädagogen von der Schülerinsel übrigens schon bei dem Projekt unterstützt.

 

Bringbacks: Ein Bringback ist so etwas Ähnliches, wie ein running Gag. Ein Spruch oder eine Handlung wiederholt sich so oft, dass es eine gewisse Comic bekommt. Das benutze ich gern und oft, weil Kinder auch das „Wiedererkennen“ mögen.

 

-          Frage: Stimmt es, dass hier ein Mörder herumläuft?

 

-          Antwort: Unsinn!

 

-          Clou: Am Ende taucht wirklich der Mörder auf.

 

Weiterer Bringback: „Eco Fresh, ich werde dich finden!“

 

Aus dem wahren Leben auf die Bühne transportiert:

 

-          „Das ist ungerecht!“ In dieser Schulklasse gerne von den Kids verlautbart und Taner war der Schüler, der diesen Satz am Häufigsten gebracht hatte. Also baute ich ihn auch in Taners Rap ein.

 

-          „Ich war doch nur ein bisschen und die anderen warns doch auch.“ Hatten die Schüler nicht wörtlich gesagt, wenn sie erwischt wurden, aber inhaltlich gibt es exakt das wieder, was sie uns immer weißmachen wollten.

 

-          „Jenny 2: Haben Schuldirektorinnen denn so leise Stimmen?

 

Schuldirektorin: Nein, aber wenn wir leise sprechen, hören wir uns gefährlicher an und das geht nur mit Mikrofon, weil ihr mich sonst nicht hören könnt.“ Das war ein dezentes Feedback dazu, wie ich unsere Schuldirektorin damals wahrnahm. Einige Kollegen mussten schmunzeln, ich weiß aber bis heute nicht, ob die Botschaft auch bei ihr ankam.

 

-          „Selina 1: Die Jungs sind schuld.“ Das Mädchen, dem ich das „in den Mund gelegt“ hatte, war dem anderen Geschlecht gegenüber stark vorurteilsbelastet.

 

-          Kalil: Die lügt, die lügt. Alle Mädchen lügen“ Der Junge, dem ich das „in den Mund gelegt“ hatte, war dem anderen Geschlecht gegenüber stark vorurteilsbelastet.

 

-          Alle: „Ich, ich, ich, ich, ich.“ Das Wort was Menschen am häufigsten benutzen, speziell in dieser Schulklasse. „Ich“ mochte sie trotzdem.

 

-          „… da ist doch immer Klopapier. Das hab ich etwas nass gemacht und schmiss es an die Eingangstür.“ Physikalische Experimente, die von den Schülern auf Toiletten tatsächlich durchgeführt wurden.

 

-          „Wieder schickt sie mich hinaus, wieder knalle ich die Tür, …“ Kam bei Taner auch häufig vor

 

-          „Ich hatte Pippi auf nen Ball gemacht, die anderen hatten nur gelacht …“ Der Schüler der dies getan hatte, sagte das er gar nicht auf den Ball pinkeln wollte. Er wollte nur „ganz normal“ an die Schulhofmauer pinkeln und plötzlich rollte der Ball unter ihm durch.

 

Besondere Entwicklung: Ala als Eko Fresh! Ein kleiner Araber, der sehr schüchtern war und kaum ein Wort herausbekam. Ich gab ihm nicht viel Text, aber einen Text, bei dem er mal richtig über seinen Schatten springen konnte. Der Junge ist an seiner Rolle als smarter, charmanter Meisterdieb phantastisch gewachsen und richtig aus sich herausgekommen.

 

 

 

Am Ende dieser langen intensiven Proben standen drei Aufführungen. Jede war anders und ich hatte die Schüler nach jeder Vorstellung gefragt, wie sie sich selbst fanden. Oft spiegelten ihre Meinungen das wieder, was auch ich gesehen hatte. Die Premiere war tatsächlich die beste Vorstellung. Ich war total geflasht, was da aus den Kindern an Premierenenergie herauskam. Die anderen Aufführungen kamen zwar immer noch super beim Publikum an, aber ich bat die Kinder sich davon nicht blenden zu lassen, sondern selbstkritisch zu bleiben. Was „genau“ war ok und was „genau“ war nicht gut gelaufen? Es war wichtig auf dem Teppich zu bleiben. Natürlich lobte ich sie von ganzem Herzen für ihre tollen Leistungen. Ich lobte sie auch dafür, dass sie selbstkritisch waren und sich selbst beurteilen konnten. Um sie zu fordern sagte ich auch mal: „Das kannst du besser und das hast du auch schon besser hinbekommen.“

 

Auf jeden Fall war ich sehr stolz auf sie und unser gemeinsames Projekt ist bis heute das leidenschaftlichste geblieben, was ich mit Schülern auf die Bühne gebracht hatte.

 

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