Dokumentation Alltagsgeschichten Teil 3

Im ersten Teil meiner Dokumentation von Alltagsgeschichten berichtete ich ganz allgemein vom Konzept und Verlauf dieses umfangreichen Theaterprojektes. Im zweiten bis viertenTeil gehe ich auf die einzelnen Geschichten ein, die erzählt wurden. Ich war bestrebt, möglichst verschiedene Erzählformen zu benutzen um sie rüberzubringen. Damit die Szenen nicht zu umfangreich wurden, kürzten wir sie ab, indem die Protagonisten zwischendurch erzählten, was passiert ist. Ansonsten wäre manchen Geschichten ein eigenes Theaterstück geworden.

 

Cesari/ Shawn – 2 Szenen an Computern/ ein Bühnenbild wird für beide Szenen genutzt

 

Cesari - Erzählform: Kurze Einführung – Szene – Fazit

 

Cesari tritt bei dieser Szene wie ein selbstbewusster Entertainer auf. Wie der Moderator einer Talkshow, der durch seine Ausstrahlung das Publikum in seinen Bann zieht.

 

Er erzählt „szenisch“ wie er in einem Chatroom einer alten Freundin begegnete und ein eifersüchtiger Junge ihn beleidigte und von „Debruisa“ fernhalten wollte. In der Realität beleidigten sich die beiden fortwährend und Debruisa wollte am Ende mit beiden nichts mehr zu tun haben. In dieser Szene thematisierte ich mit den Schülern, wie im Internet durch Anonymität die Bereitschaft zu Beleidigung und Aggressivität gesteigert wird. Am Ende gebe ich Cesari eine Lösung mit, die im Internet hervorragend funktioniert: Einfach aus dem Netz gehen und sich nicht die gute Stimmung durch irgendwelchen Aggros verderben lassen … und dann schwimmen gehen und den Tag genießen. Cesari verlässt mit entspannten Schwimmbewegungen und einem herrlich entspannten Lächeln die Bühne. Während er hinter dem einen Vorhang verschwindet  hört man von der anderen Seite schon: „Kommt, lasst uns Minecraft spielen“ und die nächsten Protagonisten betreten den „Computerraum“.

 

 

Shawn – Erzählform: Mischung aus Erklär – Bär - und Vorspielen

 

In dieser Szene ging es darum, dass Shawn Streit mit Alperen um ein Computerspiel hatte und Alperen sogar wütend auf ihn losgegangen ist. Es brauchte einige Zeit, bis ich kapiert hatte, worum es in dem Streit überhaupt ging. Die Jungs waren nämlich Computerspiele Nerds und warfen ständig mit Fachjargon um sich. Also musste ich mich erst einmal im Netz über das Spiel „Minecraft“ schlau machen. Ich kann nicht behaupten, dass ich alles kapiert hatte, aber es reichte, um den Jungs einige Erklärungen gut sortiert in den Mund zu legen. Das war definitiv der Text, der am schwierigsten zu schreiben war. Jedenfalls bot sich der „Erklär – Bär“ an, damit das Publikum einigermaßen verstand, worum es in dem Stück ging. Da ich mit dem neuen Selbstvertrauen von Shawn schon gute Erfahrungen gesammelt hatte, ließ ich ihn bei dieser Szene den Minecraft Fachmann spielen. Computerspiele waren DIE Gelegenheit dafür, denn sie waren SEIN Ding. Aus dem Jungen, der sich in der dritten Klasse noch unter seinem Schreibpult versteckt hatte, wurde ein Moderator. Weil er sich mit seinen Stärken zeigen durfte und weil er damit angenommen wurde. Das ist das selbe Prinzip, was ich auch schon mal mit Fernsehsendungen angewendet hatte. Natürlich ist es nicht toll, wenn Jugendliche zu viel vorm Computer oder Fernseher hocken. Aber es bringt nichts, sich über diese Tätigkeiten abfällig zu äußern, sondern man muss sie da abholen wo sie sind. Wenn man erst mal ihre Welt annimmt wie sie ist, fühlen sie sich auch angenommen. Als Konsequenz stehen sie auf der Bühne und sitzen nicht vorm Computer. Das könnte man die Alchemie der Theaterpädagogik nennen.

 

Ein zusätzlicher humoristischer Kniff war es Burak (Von Jeremy gespielt) als Skeptiker einzubauen, für den das Publikum, dem von Alperen und Shawn alles erklärt wird, gar nicht vorhanden ist:

 

Alp (zum Publikum):  Und es gibt auch andere Dimensionen wie die Hölle und Enderwelt. In Enderwelt kann man gegen den Enderdrachen kämpfen. Das gibt richtig Punkte.

 

Sha (zum Publikum:   Da muss man sich hinspawnen lassen. Über ein Portal.

 

Jer:                             Mit wem quatscht ihr die ganze Zeit? Da ist doch niemand. Seid ihr irre?

 

Shawn war ein sehr introvertierter Typ der stark mit sich selbst beschäftigt war und somit wenig Raum für Empathie und Hilfsbereitschaft hatte. Deswegen beendeten wir die Szene so, dass er, nachdem er Alperen auflaufen ließ und zum heulen brachte, „aufwacht“ und die Konsequenzen seines Verhaltens sieht. Ich lies ihn wieder mal neues Verhalten auf der Bühne ausprobieren in der Hoffnung, dass ein bisschen davon in seinem Unterbewusstsein hängen bleibt. Auch darauf konnten sich die Jungs einlassen. Die Botschaft lautet (Wie so oft): Aufgepasst Jungs! Schaut mal hin, wie es dem anderen gerade geht.:

 

Jer:                             Ey Shawn. Der weint.

 

Sha (beschämt):           Mist!

 

(Shawn geht zu Alperen)

 

Sha:                            Hey tut mir leid, dass ich dir nicht geholfen hab . Bist doch mein Freund.

 

Alp:                             Tut mir leid, dass ich Arsch zu dir gesagt habe.

 

 

 

Marvin – Erzählform: Reine Spielszene ohne Ansprache des Publikums

 

Bei Marvins Geschichte geht es darum, dass ein Freund bei ihm zu Besuch war und ihm die damals beliebten „Lumenbänder“ gestohlen hatte. Ich bin sicher, dass diese Geschichte nicht stimmte. Es dauerte einige Zeit, bis Marvin überhaupt etwas aufgeschrieben hatte und als es dann geschah, kopierte er einfach Nicki, der ja auch beim Videospielen von einem Freund bestohlen wurde. Marvin war entweder zu faul oder nicht intelligent genug, eine wahre Geschichte aus seinem Leben zu finden. Aber das spielte keine Rolle für mich. Bei ihm wäre es schon ein großer Erfolg gewesen, überhaupt etwas auf die Bühne zu bringen. Also zog ich ihm einige Spinnereien aus der Nase und bastelte daraus eine ähnliche Szene wie die von Nicki. Priorität war, dass die Szene für ihn so spannend ist, dass er bereit ist, etwas für die Umsetzung zu tun: Die Probenarbeit als solche war am wichtigsten. Zuerst einmal gehörte Marvin zu den Spielern, die ich wirklich nur im Theater haben konnte, wenn er auch auf der Bühne war und nicht als Zuschauer oder am Bühnenaufbau Beteiligter. Es war klar, dass er Backstage oder als Zuschauer sofort massiv stören würde. Er war ein zutiefst verunsicherter Junge, impulsiv, zappelig, aufbrausend, selbstmitleidig und Bestätigung suchend und trotzig. Bei den Proben verlangte er mir einiges an Geduld ab die ich nicht immer hatte. Aber bei ihm lernte ich, dass es nicht mehr möglich war, weiter zu proben, sobald ich Druck ausübte oder meckerte. Das bedeutete höchste Konzentration und Achtsamkeit. Ich bin sicher, dass der Probenprozess für uns beide eine Bereicherung war. Als wir am Ende aber das ganze Stück zusammensetzten und er auch Backstage dabei sein musste, damit die Auf und Abgänge funktionierten, waren seine Störmanöver so massiv, dass wir kapitulieren mussten. Und das, obwohl in dieser Phase auch meist zwei Pädagogen mit hinter der Bühne waren. Es ging einfach nicht. Das war sehr traurig und frustrierend. Denn es war offensichtlich, dass er sich wirklich auf der Bühne zeigen wollte. Eine Szene wurde dann gestrichen. Ein Jahr später war es dann ein wirklicher Trost, dass er es bei Hänsel und Gretel dann doch noch vor Publikum auf die Bühne schaffte. Hänsel und Gretel war nicht annähernd so komplex als Inszenierung und konnte entspannter angegangen werden.

 

Um diese Szene zu schreiben, musste ich mich intensiv mit dem Spiel „Dream Team Bros“ auseinandersetzen.

 

Kniffe mit denen ich die Szene interessant für ihn gestaltete:

 

-          Er konnte sich mit seinem Lieblings – Wi – Spiel präsentieren.

 

-          Zwei. „Actionszenen“ die er mochte:

 

1.      Actionszene

 

Tho:               Boah. Eine Ratte.

 

Mar:               Quatsch, in dem Spiel gibt es keine Ratte.

 

Tho:                Nicht im Spiel. In deinem Zimmer!

 

Mar:               Waaas? Wo?

 

Nic:                 Iiiih! Springt auf

 

Tho:                Da hinten in der Ecke. Daaa!

 

Mar:               Komm raus du Ratte. Du hast keine Chance!

 

2.      Actionszene

 

Mar:               Stehenbleiben! Was hast du da?

 

Tho:                Einen Fahrstuhl.

 

Mar:               Ne, dass meine ich nicht. In deiner Hosentasche.

 

Tho:                Da ist nix!

 

(Mar verschwindet hinter der Bühne und holt ihn nach vorne)

 

Mar:               Los! Hände an die Wand!

 

(Marvin durchsucht ihn und holt die Lumenbänder raus)

 

Mar:               Was ist das?

 

Tho:                Huch. Lumenbänder. Tut mir leid!

 

 

 

Firuse – Erzählform: Hin und her switchen zwischen erzählen und vorspielen

 

 

 

Firuse hatte eine CD gefunden und wusste nicht mehr genau, was drauf war. Als sie es sich anhörte fand sie die CD richtig schlecht. Aber bevor sie die CD wegwarf, wollte sie noch ihre Schwester Alena (fiktiver Name auf Wunsch von Firuse) fragen, ob sie die CD haben will. Alena wollte die CD natürlich auch nicht haben. Aber als sie mitbekam, dass Firuse die CD ihrer gemeinsamen Cousine schenken wollte, versteckte sie diese vor Firuse und warf sie später sogar weg. Bei der Befragung von Firuse ist mir aufgefallen, wie klaglos Firuse es hinnahm, dass ihre Schwester ständig Firuses Grenzen überschritt. Darauf machte ich Firuse aufmerksam und fragte sie, warum sie das einfach zuließ und sich keine Hilfe bei der Mutter holte. Weil sie Angst vor ihrer Schwester hatte. Der Grund war aber, dass Firuse fürchtete, ihr Große Schwester würde nicht mehr mit ihr spielen. Das nutzten wir, um über das Thema „sich selbst treu sein“ und „Grenzen bewahren“ zu reden. Wir übten zwischendurch auf Welche Weise Firuse ihrer Schwester gegenüber hätte ausdrücken können, wie es ihr mit den Grenzüberschreitungen ging. Allerdings war Firuse diese Art „konfliktscheues Verhalten“ so vertraut, dass sie es völlig normal fand. Wer weiß, vielleicht führen die neuen Impulse, die ich ihr gegeben hatte mal irgendwann dazu, dass sie sich besser verteidigt. Das ist dann ihre Entscheidung.

 

Wir hatten die Szene sehr komisch gestaltet und den Grenzüberschreitungen durch Alena etwas Groteskes beigemischt.

 

Fir:                 Was suchst du denn jetzt schon wieder?

 

Mara:             Nix. Nerv nicht.

 

Fir:                 Na ja. ich meine ja nur, weil du in meinen Sachen rumwühlst.

 

Mara:             Ach so, das sind deine Sachen.

 

Fir:                 Ja, meine Sachen.

 

Mar:               Na gut. (geht ab)

 

Die Gründe für ihr Verhalten erläutern die Schwestern zwischendurch in kurzen Sätzen dem Publikum:

 

Fir (zum Publikum):               Na ja, ich werde halt nicht so schnell sauer ...

 

Oder:

 

Fir (am Bühnenrand zum Publikum):           Ich will bei Mama nicht petzen. Sonst wird Alena sauer und spielt nicht mehr mit mir. Na ja. ganz schön schwer das Leben.

 

Die folgenden Sätze sprechen die Schwestern direkt zum Publikum, ohne dabei Kontakt miteinander zu haben. Das ist ein bisschen wie bei Big Brother, wenn die Protagonisten zwischendurch eine Solo - Aufnahme in der Kabine machen.

 

Fir:                 Ich hab ja noch eine Cousine. Die ist gerade auf die Welt gekommen. Die ist noch so klein (mit Händen zeigen) und soooo süß (mit Händen zeigen)

 

(Maral schaut hinter dem Vorhang hervor und spricht ihren Text zum Publikum)

 

Mara:             Die ist voll blöd. Die mag mich nicht.

 

Fir:                 Ihr gefällt die CD bestimmt!

 

Mara:             Die schreit immer, wenn ich sie auf den Schoß nehmen will. Doofes Kind.

 

Fir:                 Ich schenke ihr die CD!

 

Mara:             Das werde ich verhindern!

 

Firuse konnte sich übrigens nicht daran erinnern, was auf der CD drauf war und deswegen entschieden wir uns für „Alle meine Entchen“. Rachel hatte den singenden CD Roboter auch wirklich so gespielt, dass wir vor Lachen auf dem Boden lagen.

 

 

 

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